In Hamburg wird eine Geschichte erzählt von der ausufernden Drogenkriminalität auf St. Pauli, von Afrikanern, die auf der Straße aggressiv Drogen verkaufen und sogar Kinder ansprechen würden (laut Mopo) und von der dringenden Notwendigkeit, dass die Polizei dagegen vorgehen müsse, mit einer eigens eingerichteten Task Force.
Diese Geschichte ist eine erfolgreiche Geschichte. Sie wird in einhelligem Tenor aufgegriffen, erzählt und wiederholt in regelmäßigen Berichten der lokalen Medien, die spektakuläre und in Szene gesetzte Festnahmen von sog. Drogendealern und Drogenrazzien schildern. Diese Geschichte findet Gehör in der Leserabstimmung der Mopo, die dem harten Vorgehen der Polizei gegenüber den „Kiezdealern“ deutlich zustimmt, und diese Geschichte dient so manchen Nachbar_innen auf St. Pauli, um Diebstahl, Schlägereien, Sexismus, Uringestank und was noch so alles rund um die Reeperbahn nerven kann zu erklären und endlich Schuldige dafür zu finden.
Diese Geschichte könnte auch ganz anders erzählt werden….
Wir könnten die Geschichte mit der Kolonialzeit beginnen, mit dem transatlantischen Sklavenhandel und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Westküste Afrikas. Wir könnten uns die gegenwärtigen ökonomischen Unterschiede auf der Welt ins Bewusstsein rufen und die politische Lage in den Herkunftsländern der Menschen betrachten, die hier auf den Straßen stehen, und über unterschiedlichen Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und den Aufbau von Perspektiven im Leben sprechen.
Wir können den Geschichten zuhören, die auf der Straße erzählt werden, von Männern, die zum Teil seit Jahren auf der Reise sind und über deren Beweggründe, die sie nach Deutschland geführt haben. Von manchen, die in Libyen gearbeitet haben und dort vor dem Bürgerkrieg nach Europa geflohen sind, um nicht ermordet zu werden, und von anderen, die nach verschiedensten Zwischenstationen, in Spanien, Italien und anderen Ländern, versuchen, hier eine Lebensgrundlage für ihre Familie im Herkunftsland zu verdienen.
Wir könnten sehen, dass hier Menschen stehen und tagein tagaus einer Arbeit nachgehen unter widrigsten Bedingungen, verschiedensten Wetterlagen, unzählig viele Stunden, unter ständigem Stress, bei dieser Arbeit erwischt zu werden, und unter Pöbeleien von Reeperbahnbesucher_innen, die mal ein bisschen Aggressionen loswerden wollen.
Wir würden Menschen zuhören, die in Lagern in Deutschland untergebracht sind, mit vielen Menschen auf engstem Raum ohne Privatsphäre, schlechten sanitären Bedingungen und mangelhafter Gesundheitsversorgung. Lager, die sich an Orten in der Nähe von Magdeburg oder Halle befinden, mit so traurigen Adressen wie „An der Autobahn“ oder „Im Felde“. Orte, vor denen schon 2006 zur Fußball-WM in Deutschland gewarnt wurde, da sie als No-Go-Areas für Migrant_innen gelten. Was für die einen eine Zeitungsmeldung ist, bedeutet für andere bedrohliche Realität.
Wir könnten darüber reden, dass Menschen aus diesen Lagern, aus der Perspektivlosigkeit, in die sie von der deutschen Gesetzgebung gedrückt werden, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Berechtigung auf Deutschkurse, mit Wohnortbegrenzung und zum Nichtstun verdammt, in die Großstädte wie Hamburg kommen und versuchen, hier das Beste aus ihrem Aufenthalt zu machen.
Obdachlos, bei Freunden oder in völlig überteuerten Zimmern wohnend, beinhaltet häufig der Rucksack die gesamten Besitzstücke. Doch nicht einmal die eigenen Hosentaschen sind sicher. Bei Polizeikontrollen werden regelmäßig Handys und alles Geld abgenommen, als Tatbegehungsmittel für Drogenhandel deklariert und für Monate nicht mehr zurück gegeben. Menschen, die nicht mehr als einen Rucksack mit sich führen und häufig auf der Straße schlafen, wird somit das letzte Geld und das Mobiltelefon als zentrales Kontaktmittel zu Familie und Freunden entwendet.
In den Geschichten, die auf der Straße erzählt werden, äußert sich der Wunsch nach einer Arbeitsstelle, Deutsch zu lernen, eine Lebensgrundlage aufbauen zu können und die Familie im Herkunftsland zu unterstützen. Schon jetzt fließt das wenige Geld in das Schulgeld von Geschwistern und in die Unterstützung der Familie.
Auch Bewohner_innen der Hafenstraße bekommen zunehmend die Verdrehung der Geschichte zu spüren. Seit Herbst 2015 überfiel die Polizei mit fadenscheinigen Begründungen dreimal Privaträume der Häuser, zuletzt mit einem Polizeiaufgebot von 3 Hundertschaften und dem Versuch, eine WG als Drogendealer-Service-Point zu diffamieren.
Es ist eine politische Entscheidung, Menschen eine Zukunftsperspektive und die Teilhabe an verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu verwehren.
Auch ist es eine politische Entscheidung, Fluchtgründe nicht mehr als solche anzuerkennen und die europäische Abschottungspolitik weiter auszubauen.
Es hat eine politische Wirkung, eine völlig andere Geschichte zu erzählen. Wessen Geschichten erzählt und gehört werden, hängt stark von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab. Dies ist derzeit in Hamburg gut zu beobachten, wo weiterhin die Geschichte der Bekämpfung von Drogenkriminalität machtvoll inszeniert und mit einem irrsinnigen Polizeiapparat vollzogen wird, während die Geschichten der Menschen auf der Straße, Ursachen, Beweggründe und reale Lösungsansätze überdeckt werden.