Oder: Immer mehr Paramilitär
5.10.201610.10.2016
Mit dem Kahlschlag des Grünstreifens an der Hafenstraße hat die Militarisierung des Gebietes um die Balduintreppe eine neue Eskalationsstufe erreicht. Zwar wurden die Maßnahmen von einer Gartenbaufirma im Auftrag des Bezirksamtes Mitte durchgeführt, doch nur selten wird der Rückschnitt von Grünanlagen durch Beamte in Zivil mit Presse im Schlepptau begleitet. Und so berichten Mopo, Bild und Abendblatt auch freimütig darüber dass es sich um eine Maßnahme gegen den illegalen Drogenhandel handelt und nicht, wie das Bezirksamt behauptet, um den turnusgemäßen Rückschnitt von Straßenbegleitgrün.
Die Militarisierung St.Paulis findet seit rund einem Jahr auf verschiedenen Ebenen statt.
Militarisierung der Sprache
Sprache ist niemals neutral, sondern formt das Bild, dass wir uns von unserer Umgebung von unserem Leben machen. Wer die Sprache dominiert, setzt den Rahmen dessen, was benennbar ist, formt den Blick auf die Dinge und macht andere Dinge unausprechlich.
Die Möglichkeit, das öffentliche Sprechen über einen Sachverhalt zu beeinflussen, sind dabei nicht gleich verteilt. Manche Personen und Institutionen haben einen besseren Zugriff auf Medien als andere. Ihre Positionen und Ansichten finden eine größere Verbreitung als die anderer Akteur_innen. Zur Situation an der Balduintreppe gibt es viele verschiedene Erzählungen, doch nur einige wenige Varianten sind öffentlich weit verbreitet. Kaum verbreitet ist beispielsweise die Erzählung von Polizeiüberfällen im Dunklen, von Tritten ins Gesicht, von Pfefferspray und einschneidenden Fesseln.
Viel verbreiteter ist hingegen eine Erzählung die, von sog. „Dealern“ spricht, gerne auch mit Zusätzen von Hautfarbe oder vermuteter geografischer Herkunft, die das mögliche Anders-Sein dieser Personen betont.
Diese Erzählposition, die Position der Polizei, verfügt über ungleich größere Möglichkeiten, auf das öffentliche Sprechen über den BtM Handel Einfluss zu nehmen. Nur zu gerne begleiten die Vertreter_innen der Zeitungen die Polizei, lassen sich von ihr das Geschehen erklären und bringen diese Erzählung in den öffentlichen Diskurs ein. Unbesehen werden Presserklärungen der Polizei übernommen, auch wenn sich bei näherer Betrachtung die von der Polizei verbreiteten Vermutungen als wahrheitswidrig herausstellen. (Welche Zeitung nahm schon von der Stellungnahme des Wohnpojektes Plan B Notitz, in der darauf hingewiesen wurde, dass im Haus keine Drogen gefunden wurden).
Diese Polizei also versucht seit rund einem Jahr, ganz offensiv eine Erzählung über den BtM-Handel an der Balduintreppe zu verbreiten, die ihr einen möglichst großen Handlungsspielraum verschafft. Obwohl sich am Handel und dem Verhalten der Verkäufer in den letzten Monaten nichts geändert hat, betreibt die Polizei seit Anfang des Jahres eine Militarisierung der Sprache über das Geschehen an der Balduintreppe.
Recht unvermittelt „erklärte der Hamburger Senat am 21.4. 2016 den Krieg“ (Mopo 21.4.16). Und reagiert damit, nach eigenen Angaben auf eine „Invasion“ (Mopo 22.4.16) durch die „Kiez-Dealer“. Eine Task Force wird im Zuge dessen damit beauftragt, die „Dealer zu jagen“ (ebd.) und gegebenenfalls bei einem Ausweichen in andere Viertel „nachzusetzen“ (Abendblatt 21.4.16)
Militarisierung des Raumes
Der Sprache folgend kommt es in den folgenden Monaten zu einer immer stärkeren Militarisierung des Raumes. Sind es zunächst noch Streifenpolizist_innen, die über den Kiez patrouilieren, ändert sich im Frühjar 2016 das Straßenbild. Immer öfter erscheint die Bereitschaftspolizei, die in Zweier- und Dreier-Trupps patrouiliert, bis sie schließlich dazu übergehen, neuralgische Punkte über Stunden mit Mannschaftswagen zu besetzen. Im Frühsommer gibt es dann mehrere „Schwerpunkteinsätze“, bei denen ganze Hundertschaften das Quartier über Stunden besetzen. Auch die Dichte der Einsätze nimmt zu, so dass aus den ehemals stichpunktartigen Kontrollen ein über Stunden anhaltender Belagerungszustand wird. Immer öfter wird dabei auch auf Pivatgelände vorgedrungen, um Menschen zu verfolgen und zu jagen. Zunächst in die Hafen-Vokü, dann in die Parterre-Wohnung einer Anwohnerin, und schließlich findet im Juli ein Überfall auf das Wohnprojekt Plan B mit mehr als 260 Beamten und Spezialeinheiten unter vorgehaltener Waffe statt. Bei keinem dieser Polizeiübergriffe wurde in den Häusern BtM gefunden, und spätestens im Juli musste allen Pressevertreter_innen klar gewesen sein, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht um BtM geht.
Und dennoch setzt sich die von der Polizei verbreitete Erzählung vom Kriegsschauplatz St.Pauli- Süd durch. Wie sehr es sich dabei um eine aktiv betriebene Militarisierung handelt, wird deutlich, wenn mensch sich einen Moment den „Rockerkrieg“ auf St.Pauli anschaut, bei dem ja tatsächlich nicht nur von der Polizei geschossen wird und die Gewalt Opfer auf verschiedenen Seiten fordert.
Wer dachte, nach dem Überfall auf Plan B wäre das Ende der Militarisierung erreicht, wurde Ende September eines Besseren belehrt. Statt eines Überfalles wurde das „Gefahrengebiet“ über mehrere Tage besetzt und ein Hofeingang belagert, um Kontrollen durchzusetzen.
Doch die Militarisierung schreibt sich mittlerweile auch in die Infrastruktur des Stadtteils ein. Mit einem halben Dutzend neuer Laternen wird der umkämpfte Raum ausgeleuchet, um den „Gegner“ besser im Blick zu haben. An diese Erzählung anschließend war es kein Wunder, dass allen Medienvetreter_innen die Rodungsarbeiten am 10.10. als schlüssige Weiterführung der polizeilichen Maßnahmen im „Krieg gegen die Dealer“ erschienen, denen es möglichst jede Deckung zu nehmen galt.
Zivile Umgangsformen, die an nicht derart militarisierten Orten üblich sind, tauchen in diesen Beschreibungen nicht mehr auf. Mensch stelle sich nur den Aufschrei der Entrüstung vor, wenn das Bezirksamt unvermittelt die Gehölze am neuen Pferdemarkt roden würde, um dem ausufernden Alkoholkonsum an Wochenenden in dieser Gegend Herr zu werden.